Wo sind die Tübinger Juden verschwunden? Die traurige Geschichte, wie die Stadt der Studenten und Professoren zu einer Bastion des Nationalsozialismus wurde

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Die österliche Exkursionsreihe zur Geschichte und geistigen Kultur Tübingens wird fortgesetzt.

Eine weitere Tour fand am 28. Mai statt.

Sie stand unter folgendem Thema: “Was geschah mit den Tübinger Juden? Ein trauriger Bericht darüber, wie die Studenten- und Professorenstadt zu einer Bastion des Nationalsozialismus wurde”.

Insgesamt 34 Personen nahmen an der Tour teil.

Die meisten von ihnen kamen aus der Ukraine und leben derzeit in Tübingen und Umgebung. Reiseleiter war Aleksei Volchkov, ein Priester aus St. Petersburg, Mitarbeiter der Universität Tübingen und des örtlichen Caritasbüros.

Die Gruppe versammelte sich um Punkt 12 Uhr auf der Eberhardsbrücke. Genau in der Mitte befand sich ein Denkmal – eine Statue des Universitätsgründers Eberhard im Bart stand in einer besonderen Kapelle, die bis 1943 im gotischen Stil gebaut wurde. Leider haben Antisemitismus und Intoleranz ihre Wurzeln in Tübingens Vergangenheit. Es ist bekannt, dass eine Bedingung für die Gründung der Universität (1477) die Vertreibung der Tübinger Juden war.

Die Gruppe fand sich dann in der Hermann-Kurz-Straße 4 wieder. 1934 baute die Stadt am Neckarufer ein großes und modernes Gebäude für die Bedürfnisse der örtlichen Hitlerjugend-Zelle. Der Nationalsozialismus hatte eine “feierliche”, “offizielle” Seite. Er war für viele Menschen sehr anziehend. Der Jugendkult, die freiwillige Selbstbeschränkung im Namen des Gemeinwohls, die Betonung der Erziehung der Jugend – all das begeisterte Millionen von Deutschen.

Danach gingen wir in die Gartenstraße 33. An dieser Adresse befand sich früher die Synagoge. Sie wurde 1882 erbaut und in der Reichspogromnacht (vom 9. auf den 10. November 1938) abgerissen. Der Führer erzählte, dass die Frage der Gedenktafel am Standort der Synagoge nicht leicht zu lösen war. Das Denkmal selbst wurde erst 42 Jahre nach der Zerstörung der Synagoge dort aufgestellt. Die 101 Löcher im Denkmal symbolisieren die 101 Tübinger Juden, die nach Riga, Dachau oder Theresienstadt deportiert wurden.

Die Teilnehmer der Führung lernten die bemerkenswerte Tübingerin Lilli Zapf (Anna Mathilde Zapf) kennen. 1955 in den Ruhestand versetzt, erforschte sie das Schicksal der Tübinger Juden. Das Ergebnis ihrer Nachforschungen war die Veröffentlichung eines Buches im Jahr 1974.

Nach der Synagoge gingen wir zum Holzmarkt. Auf dem Weg dorthin hielten wir an der Bursagasse 18. Hier ist Theodor Dannecker, die rechte Hand von Adolf Eichmann, einem der größten Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs, geboren und aufgewachsen. Dannecker war an der Deportation von mindestens 485.000 Juden aus Schwaben und Frankreich beteiligt.

Auf dem Holzmarkt richteten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Stiftkirche, in der während der Naziherrschaft ein Hakenkreuz hing.

Der Führer beschrieb die Aktivitäten der Stadtpolizei, die die Gestapo bei der Verfolgung von Juden und anderen Personen, denen die Nazis keine Zukunft zutrauten (Träger von Erbkrankheiten, Geisteskranke, Oppositionelle, Roma, Jehovisten, Homosexuelle), eifrig unterstützte.

Ein wichtiger Ausdruck der nationalsozialistischen “Arisierungspolitik” ist die Enteignung von Juden. Ein Beispiel für diese Politik ist das Schicksal des Geschäfts Eduard Degginger Nachfolger. Im Jahr 1939 wurden die bisherigen Eigentümer (die jüdischen Familien Schäfer und Oppechem) gezwungen, das Geschäft an Karl Heidt, einen NSDAP-Berater, zu verkaufen.

Besonders bewegend war die Erzählung, wie Tübinger Schülerinnen und Schüler sowie Bürgerinnen und Bürger an der Verlegung von Stolpersteinen beteiligt waren. Im Jahr 2010 sammelten Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Scholl-Schule Informationen darüber, wo deportierte Juden lebten. Und 2011 und 2018 verlegte der Künstler und Aktivist Günter Demnig genau diese Stolpersteine, kleine Tafeln aus Messing mit den Namen und Lebensdaten der Tübinger Juden, an diesen Adressen.

Der Rundgang endete in der Nähe der Neuen Aula. Die Teilnehmer erfuhren, wie die Universitätsprofessoren und Studenten in die Verbrechen der Nationalsozialisten verwickelt waren. Die “Rassenwissenschaft” und die “Rassenforschung” wurden in den Mauern der Universität aktiv gefördert. Die Probanden waren Ostarbeiter und Lagerinsassen. Ein Lichtblick für den Ruf der Universität ist, dass viele Studenten und Absolventen am Attentat des 20. Juli teilgenommen haben. Die Namen der hingerichteten Mitglieder dieser Widerstandsbewegung sind auf Tafeln am Eingang der Neue Aula zu sehen.

Die allmächtige Macht der Staatspropaganda, die Apathie und Ohnmacht des Einzelnen, die teuflische Anziehungskraft einer Idee, die die ganze Nation eint – all diese Dinge waren denjenigen, die im Jahr 2023 leben, unerwartet vertraut.

Die Reiseroute und die besuchten Orte gaben jedem Teilnehmer reichlich Stoff zum Nachdenken über sich selbst und über das Schicksal des ukrainischen und russischen Volkes.

Der Zyklus der Exkursionen wird in den Sommermonaten fortgesetzt. Neben bekannten Routen (“Alt-Tübingen”, “Tübinger Kirchen”, “Kloster-Schloss Bebenhausen”) arbeitet der Autor des Projekts ständig an neuen Exkursionen. Bis Ende Juni soll mit dem Tübinger Schloss eine neue Besichtigungsroute fertiggestellt sein.

Priester Aleksei Volchkov sagte, dass bei der Ausarbeitung der Exkursion hat er aktiv Daten aus dem Geschichtspfad zum Nationalsozialismus genutzt. Der Geschichtspfad besteht aus 16 Stationen und beschäftigt sich mit verschiedenen Geschichten der tragischen Geschichte der Tübinger Juden. Initiiert wurde der Geschichtspfad vom Verein Geschichtswerkstatt Tübingen e.V.

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